Im unserem Interview erklärt Dr. med. Sophie Wenzel, wie Rückenschmerzen und Stress zusammenhängen und wie man diesem Teufelskreis entfliehen kann.
Rückenschmerzen und psychischer Stress: Inhaltsverzeichnis
Stress: Definition und typische Ursachen
Redaktion: Was genau ist eigentlich Stress?
Sophie Wenzel: „Stress“ ist ein ziemlich weitgefasster Begriff. Im Grunde genommen handelt es sich dabei erst einmal bloß um eine körperliche und psychische Reaktion des Körpers auf eine außergewöhnliche Anforderung. Der Körper mobilisiert in jedem Fall bestimmte Botenstoffe im Gehirn und Hormone, wie beispielsweise Cortisol und Adrenalin, um schnell, leistungsstark und konzentriert zu sein. Diese Reaktion hilft uns, Wege zu finden, um die Anforderung zu bewältigen. Es handelt sich dabei um ein „Sonderprogramm“ für besonders herausfordernde Situationen – und ist nicht als Dauermodus gedacht. Entsprechend erschöpfen die Stressreaktionen Körper und Seele, wenn sie zu häufig zum Einsatz kommen.
Redaktion: Was sind typische Ursachen für Stress?
Sophie Wenzel: Als Auslöser für Stress kommen ganz unterschiedliche Reize in Betracht. Das können sowohl negative als auch positive sein: Auch ein sportlicher Wettkampf oder außergewöhnlich anspruchsvolle Aufgaben bei der Arbeit sind Stress, der unseren Körper zu Höchstleistungen animiert. In gewissem Ausmaß gehört Stress hier und da also zum Leben dazu. Aber natürlich reagieren die Menschen unterschiedlich darauf, je nach körperlicher Verfassung und kognitiven Fähigkeiten. Entscheidend dafür, ob wir die Situation als belastend oder herausfordernd empfinden, sind vor allem zwei Bedingungen: Wie lange der Stress anhält und ob wir das Gefühl haben, das Geschehen beeinflussen zu können, also ihm nicht hilflos ausgesetzt zu sein.
Stress und Rückenschmerzen
Redaktion: Welchen Zusammenhang gibt es zwischen Stress bzw. psychosozialen Belastungen und Rückenschmerzen?
Sophie Wenzel: Folgender Mechanismus ist wahrscheinlich noch ganz gut nachvollziehbar: Starke psychische Daueranspannung führt zu einer dauerhaften Stresssituation für den Körper, häufig bis in den Schlaf hinein. Diese äußerst sich u. a. in angespannter Muskulatur und Veränderung der Körperhaltung und das wiederum verursacht Beschwerden im Rücken- und Nackenbereich.
Man weiß mittlerweile, dass bei einem sehr großen Teil der Menschen mit Rückenschmerzen psychosoziale Ursachen entscheidend dazu beitragen, dass sich akute Rückenschmerzen chronifizieren. Es ist also ganz wichtig, dass man diese Ursachen früh abklärt. Leider befürchten Patienten mit körperlichen Beschwerden, bei denen man eine psychogene Ursache vermutet, häufig, dass man ihnen die Schmerzen nicht abkauft. Man könnte ihnen ja unterstellen, dass sie sich die Schmerzen nur einbilden. Das ist hinderlich und beruht auf einem weitverbreiteten Missverständnis. Die Beschwerden sind vorhanden, nur die Ursache kann eben auch seelischer Natur sein.
Psychischer Stress kann zu Rückenschmerzen führen – und umgekehrt.
Dr. Sophie Wenzel
Ärztin im Fachgebiet Psychiatrie und Psychotherapie
Redaktion: Welche Stressauslöser bzw. psychosozialen Faktoren führen häufig zu Rückenschmerzen?
Sophie Wenzel: Häufig wird eine depressive Stimmungslage als Auslöser für nichtspezifische Rückenschmerzen genannt. Diese Stimmungslage wird fast immer durch berufliche, familiäre und weitere „psychosoziale“ Belastungsfaktoren hervorgerufen. Nur um einmal ein paar solcher psychosozialen Problemfelder zu nennen: das können finanzielle Sorgen sein, Über- aber auch Unterforderung im Job, Spannungen und fehlende Wertschätzung im Kollegium, lange Pendelstrecken zur Arbeit, fehlende familiäre Unterstützung, Streit in der Familie, Sorgen um ein krankes Familienmitglied, aber auch unausgesprochene Schwierigkeiten in der Partnerschaft und Einsamkeit.
Selbstverständlich können auch Menschen ohne Neigung zur Depressivität durch andauernd hohe Belastungen, z. B. weil sie versuchen müssen, Familie und Beruf unter einen Hut zu bekommen, unter Dauerstress stehen und dadurch Rückenschmerzen entwickeln. Frauen sind in diesem Zusammenhang übrigens besonders gefährdet. Dann gibt es wiederum diejenigen, die eine übertriebene Arbeitsmoral haben und ihre eigenen Grenzen völlig übersehen, immer glauben, noch mehr leisten zu müssen und noch nicht gut genug zu sein. Interessanterweise kommt Stress bei der Arbeit vor allem dann auf, wenn man viel leisten muss, aber selber wenig mitentscheiden darf. Kann ich bei der Arbeit hingegen viel mitbestimmen und mich mit meinen Ideen einbringen, ist auch eine hohe Arbeitsanforderung gut zu bewältigen und kann sich sogar gut anfühlen.
Im Prinzip ist der Kern der Problematik aber immer derselbe: Dass wir unsere eigenen Grenzen nicht kennen, nicht wahrnehmen, nicht respektieren oder aber das Gefühl haben, einer Situation hilflos ausgeliefert zu sein. Es gilt also zu erkennen, ab wann wir uns nicht nur gefordert, sondern überfordert fühlen.
Redaktion: Können Rückenschmerzen zu Stress führen?
Sophie Wenzel: Auf jeden Fall. Wir müssen ja bedenken, dass eine Stressreaktion entsteht, um eine große Belastung zu stemmen. Schmerzen sind ein Warnsignal – der Körper soll sich etwas einfallen lassen, damit die Schmerzen aufhören! Somit sind Schmerzen ein guter Grund für eine Stressreaktion. Bei unspezifischen Rückenschmerzen gibt es so gut wie keinen Grund, sich schonen zu müssen. Und trotzdem haben Betroffene häufig das Gefühl, genau das zu tun. Das kann dazu führen, dass sie sich zurückziehen und Gesellschaft meiden. Dazu kommt, dass sie sich aufgrund der Beschwerden mehr anstrengen müssen, um aktiv zu sein. Selbst alltägliche Handgriffe fallen dann schwerer und auch angenehme Tätigkeiten machen keinen Spaß mehr. Rückenschmerzen führen also direkt und indirekt zu einer Stressreaktion des Körpers.
Redaktion: Handelt es sich um eine Art Teufelskreis, sprich Rückenschmerzen führen zu Stress und dieser Stress wiederum verstärkt die Rückenschmerzen?
Sophie Wenzel: Das ist sogar ein ganz klassischer Teufelskreis. Der Eintritt ist die unterlassene Bewegung aufgrund der Schmerzen und die Annahme einer Schonhaltung. Das ist prinzipiell verständlich, denn Schmerzen können Angst machen. Aber mangelnde Bewegung führt zum Muskelabbau, Verkrampfung der Muskeln und Verhärtungen, was alles noch mehr Rückenprobleme verursacht. Vertrackt wird das Ganze, wenn sich das sogenannte „Schmerzgedächtnis“ einschaltet. Dauerhafter Schmerz kann nämlich dazu führen, dass Schmerzrezeptoren permanent empfindlicher auf Schmerzen reagieren. Der Schmerz verselbstständigt sich also in gewisser Weise, verliert seine Funktion als Warnsignal und lässt sich nur noch schwer behandeln.
Wenn man sich zurückzieht und schont, kann das wiederum dazu führen, dass man seinen Alltag nicht mehr so gut erledigt bekommt, an Gewicht zunimmt, unzufrieden wird usw. Dann kann es manchmal ganz schön schwierig werden, positiv zu denken. Die negative Stimmung wiederum begünstigt Rückenschmerzen.
Gegen Rückenschmerzen aktiv werden
Redaktion: Wie kann ich Rückenschmerzen effektiv bewältigen?
Sophie Wenzel: Das Ziel sollte sein, den Rückenschmerzen nicht die Oberhand über sich und sein Leben zu überlassen, sondern wieder das Gefühl zu bekommen, selbst Einfluss auf die Beschwerden nehmen zu können.
Im Teufelskreis der Rückenschmerzen spielen negative Gedanken eine große Rolle: Vielleicht wissen wir bereits, dass Bewegung unsere Rückenschmerzen lindern würde. Und trotzdem kommen Gedanken auf wie „Ich schone mich heute lieber mal, sonst gehen die Schmerzen nie vorbei“. Solche Gedanken unterstützen die Vermeidung und führen uns weiter in den Teufelskreis, sie sind also nicht besonders hilfreich. Wenn wir uns jetzt bewusstmachen, dass wir auf unsere Gedanken Einfluss nehmen können, können wir sie mit etwas Abstand auf den Prüfstand stellen.
Mithilfe von Techniken aus der kognitiven Verhaltenstherapie können wir die destruktiven, negativen Gedanken als solche enttarnen und ihnen aktiv etwas entgegenstellen. Sätze wie „Ich weiß, dass es mir schwerfällt, aber nach der Bewegung wird es mir besser gehen“ sind positiv formuliert und lösungsorientiert. Wenn ich es jetzt schaffe, diesen Satz in die Tat umzusetzen, mache ich wahrscheinlich die Erfahrung, dass sich die Bewegung angenehm auf meine Rückenschmerzen auswirkt. Dieses gute Gefühl bestärkt mich dann wahrscheinlich beim nächsten Mal, nicht so lange zu hadern und gleich rauszugehen.
Manche Menschen haben große Sorgen vor der Einnahme von Schmerzmitteln. In manchen Fällen ist es durchaus angebracht, Schmerzmittel einzunehmen, denn dann fällt es leichter, sich zu bewegen und wieder aktiv zu werden. Gut ist auch, zu wissen, welche Entspannungsverfahren einem helfen, wie beispielsweise Wärmekissen oder ein Bad.
Auch Orthesen und Bandagen, auf die man jederzeit zurückgreifen kann, sind gute Ergänzungen zu Schmerzmitteln. Sie entlasten die Wirbelsäule und stabilisieren den Rücken, was einem wieder zu mehr Sicherheit bei Bewegung verhilft.
Um trotz Rückenschmerzen zufrieden zu sein und sie langfristig zu überwinden, kann es notwendig sein, seine Ziele bezüglich der Rückenbeschwerden etwas herunterzuschrauben, also in etwa nicht die „komplette Schmerzfreiheit“ anzustreben. Hierfür hilft es, zu wissen, welche Ressourcen einem zur Verfügung stehen, um die Beschwerden erträglicher zu machen.
Redaktion: Gibt es generelle Verhaltens-Tipps zur besseren Stress- und Schmerzbewältigung bei nicht-spezifischen Rückenschmerzen?
Sophie Wenzel: Um Rückenschmerzen wieder loszuwerden und vorzubeugen, ist es ungemein wichtig, dass wir uns genügend bewegen. Treppensteigen statt Fahrstuhlfahren, kleine Strecken zur Arbeit mit dem Rad erledigen, Spaziergänge zum Ausklang des Tages einbauen. Bewegung, vor allem an der frischen Luft, reduziert Stress und macht nebenbei den Kopf frei.
Nicht selten ist man aber verunsichert, wenn man unter Rückenschmerzen leidet und traut sich bestimmte Bewegungen nicht mehr zu. An dieser Stelle kann das Tragen einer Orthese sinnvoll sein, die den Rücken stützt und dadurch Sicherheit gibt. Dann kann man sich beruhigt wieder der Bewegung widmen.
Für diejenigen, die sich dauerhaft angespannt fühlen, können auch Entspannungsverfahren wie progressive Muskelentspannung nach Jacobsen hilfreich sein. Vielen Menschen sagen auch beispielsweise Yoga und Pilates zu, da sie Sport und Entspannung miteinander kombinieren.
Im Beruf sollten wir darauf achten, unsere Pausen auch wirklich zu nehmen und dann die Arbeit so gut es geht kurz beiseiteschieben. Vielleicht gibt es sogar die Möglichkeit, einen kleinen Spaziergang zu machen oder sein Mittagessen an der frischen Luft einzunehmen. In jedem Fall sollten wir unseren Hauptarbeitsplatz nach Möglichkeit kurz verlassen.
Redaktion: Wann sollten sich Rückenpatienten in psychotherapeutische Behandlung begeben?
Sophie Wenzel: Wenn wir über einen längeren Zeitraum trotz aller Bemühungen nicht von den Rückenschmerzen loskommen, uns vielleicht sogar zunehmend von sozialen Aktivitäten, familiären Verpflichtungen und Hobbys zurückziehen; wenn wir darüber hinaus immer häufiger krankgeschrieben, dauerhaft traurig und bedrückt sind, die Rückenschmerzen einen also immer mehr vereinnahmen, den Schlaf rauben und von einem zufriedenen Leben abschneiden, dann ist es Zeit, darüber nachzudenken, ob eine Psychotherapie in Frage kommt.
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